Datum:
1. Jahrestagung der Sektion Inklusion, Diversität und soziale Ungleichheit (IDU) der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (ÖFEB)
Diversität als Gegenstand pädagogischer, bildungswissenschaftlicher sowie bildungspolitischer Debatten verweist auf die grundlegende Tatsache, dass Differenz und Unterscheidung genuiner Bestandteil formaler wie informeller Bildungsprozesse sind. Die Auseinandersetzung mit Diversität ist somit ein konstitutives Moment pädagogischer Praxis und Theorie – und unterliegt zugleich gesellschaftlichen, politischen und diskursiven Konjunkturen (UNESCO, 2020). Dabei ist stets auch das Ringen um Ressourcen, Deutungsmacht und Legitimationen mitgedacht: etwa hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit Bildungssysteme uneingeschränkten Zugang zu und eine chancengerechte Teilhabe an Bildung für alle ermöglichen, oder in Bezug auf die Reichweite entsprechender Forschungs- und Praxisfelder, deren Förderung bildungspolitischen Trends unterworfen ist (Parlament Österreich, 2024). In diesem Kontext ist es unabdingbar, soziale Ungleichheit und Machtverhältnisse als zentrale Analyseaspekte anzuerkennen und kritisch zu reflektieren.
Inklusion wird zunehmend als Antwort auf vielfältige gesellschaftliche Herausforderungen verstanden. Insbesondere seit Ende der 2000er-Jahre gewinnen Konzepte inklusiver Bildung und Diversität in vielen europäischen Ländern an Bedeutung (European Agency for Special Needs and Inclusive Education, 2017). Bezugspunkte bilden unter anderem menschenrechtliche Dokumente, wie die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen – insbesondere Ziel 4, das inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie lebenslanges Lernen für alle fordert (United Nations, n.d.) – sowie supranationale Empfehlungen, etwa durch die Europäische Kommission, die Inklusion als Leitprinzip des Europäischen Bildungsraums positioniert (European Education Area, 2024). Diese Entwicklungen zielen auf eine Transformation bestehender Bildungssysteme hin zu einem umfassenden Inklusionsverständnis: Vielfalt wird nicht als Abweichung, sondern als Normalität anerkannt. Im Zentrum stehen der Abbau struktureller Barrieren sowie die Schaffung gleicher Teilhabechancen für alle Lernenden.
Forschungsarbeiten zu Inklusion, Diversität und sozialer Ungleichheit fokussieren vielfältige Themen pädagogischer Praxis und Theorie: etwa die Entwicklung didaktischer Konzepte für gemeinsamen Unterricht – darunter translanguaging-Ansätze (Vogel & Garcia, 2017; Panagiotopoulou et al., 2020) – oder internationale Vergleichsstudien, die unterschiedliche bildungspolitische Zugänge sichtbar machen (Powell et al., 2021). Kritische Perspektiven beleuchten die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit in Bildungskontexten, häufig unter Berücksichtigung intersektionaler Differenzlinien (Bešić, 2020; Gillborn, 2015; Shaeffer, 2019). Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte für ein inklusives, diskriminierungskritisches Bildungssystem (Donath et al., 2023). Zunehmend rückt zudem das Feld inklusiver digitaler Bildung in den Fokus, das sich unter anderem mit Chancen und Risiken technologischer Entwicklungen für Teilhabe befasst (Bosse et al., 2019; European Agency for Special Needs and Inclusive Education, 2022a).
Die skizzierten Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass Inklusion, Diversität und soziale Ungleichheit nicht nur curricular, sondern auch institutionell in Bildungs- und Forschungskontexten verankert wurden – von der Elementarpädagogik bis hin zur Erwachsenenbildung. Dieser Status quo kann jedoch nicht als gesichert, geschweige denn als Ausdruck eines breiten gesellschaftlichen bzw. bildungspolitischen Konsens erachtet werden. Vielmehr ist aktuell eine gegenläufige Tendenz zu beobachten: Die unter dem Tagungsthema „Inclusion under threat“ pointiert benannte Problematik verweist auf aktuelle, gesellschaftliche, (bildungs-)politische und wissenschaftliche Herausforderungen.
Im deutschsprachigen Raum äußert sich diese Dynamik u.a. in bildungs- und parteipolitischen Diskursen, die das Recht auf gemeinsame Bildung delegitimieren und Inklusion als ideologisches Projekt abwerten. Segregierende Strukturen werden dabei teils explizit gestärkt, während diskriminierungskritische Ansätze als partikular oder normativ diffamiert werden (Hinz et al., 2019). Dieser ‚diskursive Backlash‘ lässt sich im Kontext einer europaweiten (bildungs-)politischen Bewegung lesen (European Agency for Special Needs and Inclusive Education, 2022b; Osler, 2023) – mit Parallelen zu Entwicklungen in den USA, wo Angriffe auf Gender-, Disability- und Postcolonial Studies als gezielte Strategien zur Einschränkung kritischer Wissensproduktion fungieren. Auch im deutschsprachigen Raum stehen Forschungsarbeiten zu Inklusion, Diversität und sozialer Ungleichheit zunehmend „under threat“.
Derartige Dynamiken und Entwicklungen treffen auf eine Reihe empirisch kaum beleuchteter Herausforderungen, die die Umsetzung inklusiver Bildung maßgeblich beeinflussen. Dazu zählen etwa die „chronische Unterfinanzierung“ entsprechender Maßnahmen (Monitoringausschuss, 2023), die systematische Aushöhlung bzw. Verschiebung des Inklusionsbegriffs (Biermann, 2019) oder der Lehrer:innenmangel, der die inklusive Praxis erschwert und Differenzkonstruktionen in Bildungsräumen verfestigen kann (Sturm, 2018; Peyton et al., 2021). Auch die Digitalisierung eröffnet ein ambivalentes Spannungsfeld zwischen inklusiven Potenzialen und der Gefahr einer Reproduktion bestehender Ungleichheiten (‚digital divide‘) (u.a. Hochgatterer et al., 2023) – empirische Forschung hierzu steckt im deutschsprachigen Raum noch in den Anfängen.
Die erste Jahrestagung der Sektion Inklusion, Diversität und soziale Ungleichheit (IDU) der ÖFEB nimmt vor diesem Hintergrund zentrale theoretische, didaktische und empirische Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick: Inwiefern ermöglichen oder begrenzen bestehende strukturelle, diskursive und (bildungs-)politische Rahmenbedingungen die Entwicklung inklusiver Bildung – und wo eröffnen sich neue Wege und Perspektiven daraus für Theorie, Praxis und Forschung? Die Beiträge sind entlang von vier inhaltlichen Schwerpunkten sowie zwei Querschnittsthemen strukturiert, die sich in der inhaltlichen Ausrichtung der Schwerpunkte widerspiegeln:
Themenschwerpunkte:
Querschnittsthemen: